Von Wegen Lisbeth

Mein liebster Matze,

da sitzen wir nun 2,77 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt und können uns aus allseits bekannten Gründen nur diese Zeilen schreiben.

„Menschenskinder“, pflegt meine Oma da immer zu sagen und seufzt dazu schwer. Menschenskinder! Ein Ausdruck, der meiner Meinung nach viel zu selten benutzt wird. Einerseits scheint er gar nichts auszusagen, andererseits vermittelt er so ein Gefühl, als hätte man all das schon längst geahnt und würde allwissend über der Welt schweben. Ich glaube, es ist nicht möglich, „Menschenskinder“ zu sagen, ohne dadurch ein verblüfftes und anerkennendes Schweigen in der Gesprächsrunde zu erzeugen. Einfach mal ausprobieren!
„Das ist ja allerhand“, schlägt da in eine ähnliche (aber staunendere) Kerbe, während ich „Sapperlot“ nie verstanden habe und vollends ablehne.


Ach, wie unhöflich von mir: „Hast du’s, Matze? Oder kennst du jemanden?“, hätte ich dich schon längst fragen sollen aber erstens komme ich mir dabei vor als wärst du mein gottverdammter Dealer und zweitens kann ich Du-weißt-schon-was nicht mehr hören. Auf der einen Seite möchte ich besagtes Thema einfach mal für fünf Minuten nicht hören müssen, auf der anderen Seite lechzt mein Körper danach, jede einzelne Sondersendung durch die noch funktionsfähigen Lungenflügel einzuatmen und mir Mutti Merkels Rede an die Nation auf die Wade zu tätowieren. Kennst du das, wenn man etwas ganz Ekliges einfach angucken muss, obwohl niemand einen dazu zwingt?

Noch vor ein paar Wochen, als „alles noch gut“ war, habe ich versucht, auf einem Kurzurlaubstrip mich selbst und meine innere Mitte zu finden. Da es für Full-Moon-Partys auf Kho Samui finanziell grad nicht reichte, habe ich alter Hippie-Weltenbummler mich dahin treiben lassen, wo der Regio RE3 halt hinfährt und landete auf Kho Usedom. Während ich also am Strand saß, auf das Meer schaute und darauf wartete, dass mein Globulitrip endlich kickt, versuchte ich mit aller Kraft die gerade entdeckten Hotels „Kaiser Wilhelm“ sowie „Germania“ aus meinem Gedächtnis zu vertreiben, die mich aber von der Strandpromenade aus hartnäckig zu beobachten schienen. Kennst du das kribbelnde Gefühl im Nacken, wenn jemand einen von hinten anguckt?

Hinter mir glotzte also Kaiser Wilhelm und versaute mir das Gefühl, allein in der rauen Natur zu sein und vor mir schob sich in wie einstudierter Regelmäßigkeit ein Jack-Wolfskin-Funktionsjacken-Pärchen nach dem anderen in mein Blickfeld. Während für „ihn“ ein saftiges Salatgrün im Trend liegt, trägt „sie“ heute ein wettergegerbtes Rot. Durch den leicht ausgeblichenen Farbton wirkt die eigentlich fabrikneue Jacke so, als wäre man mit ihr schon genau da gewesen, wo dieser bärtige Mann aus der Jack-Wolfskin-Werbung auf dem Berggipfel sinnierend in die Ferne blickt.

Hach Deutschland, deine unberührte Natur.


Was treibst du eigentlich in deiner Quarantäne-Butze? Schreibst du ein Lied über all die Leute, die man jetzt während seiner Isolation nicht mehr sehen muss? Darf man Leute eigentlich in Zeiten der Solidarität trotzdem noch scheiße finden? Und welches Startup hat eigentlich die Kurtaxe erfunden?

Quarantäne-Küsschen und bis baldrian,
dein David